Zwischen Ressort- und Gesamtverantwortung: Welcher Vorstand haftet wann?
Zwischen Ressort- und Gesamtverantwortung: Welcher Vorstand haftet wann?
Grundsätzlich tragen alle Mitglieder des Vorstands Verantwortung für das Unternehmen – und haften entsprechend für Schäden infolge von Pflichtverletzungen. Doch lässt sich durch eine Ressortverteilung die Haftung begrenzen?
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Mark Mustermann konnte es nicht fassen: Als Vorstandsmitglied hatte er jahrelang erfolgreich und gewissenhaft das Deutschland-Geschäft der Muster AG geführt. Von systematischer Korruption im Südost-Asien-Geschäft seiner Vorstandskollegin Sabine Untreu hatte er nichts geahnt. Trotzdem sollte er nun gemeinsam mit der Kollegin und zwei weiteren Vorstandsmitgliedern für den Schaden aufkommen?
So wie unserem Beispiel-Vorstand ging es in den vergangenen zehn Jahren vielen Managern, die lernen mussten, dass Compliance in der Gesamtverantwortung des Vorstands liegt. Der Aufbau eines unternehmensweiten Compliance-Systems lässt sich nicht in ein anderes Ressort delegieren. Für Missstände in der Compliance-Organisation eines Ressorts haften auch die Vorstandsmitglieder der anderen Ressorts. Das stellte das LG München I im Jahr 2013 im Rahmen der Aufarbeitung des Siemens-Korruptionsskandals klar.[1]
Doch die Gesamtverantwortung des Vorstands erstreckt sich noch weit über das Thema Compliance hinaus. Tatsächlich stellt die Gesamtverantwortung den Regelfall dar. Nur ausnahmsweise können sich Vorstandsmitglieder durch Aufgabenzuweisung (d.h. Geschäftsverteilung entlang von Vorstandsressorts) enthaften. Doch wo ist die Grenze zu ziehen?
1. Regelfall Gesamtverantwortung
Grundsätzlich ist jedes Vorstandsmitglied für die gesamte Geschäftsleitung (gemäß § 76 Absatz 1 AktG) verantwortlich.
Zum Tragen kommt die Gesamtverantwortung somit insbesondere in Situationen und bei Entscheidungen, die Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft und ihre zukünftige Entwicklung haben.
Beispiel 1: Fusionen, Verkäufe und Übernahmen
Ein Konzern plant im Rahmen einer strategischen Neuorientierung die Veräußerung mehrerer ausländischer Tochtergesellschaften. Über die Veräußerungen und deren Konditionen muss der Vorstand als Ganzes entscheiden. Jedes Vorstandsmitglied muss sich auf Grundlage der verfügbaren Informationen ein eigenes Bild von den Transaktionen machen und eine selbstständige Abwägung zum Wohle der Gesellschaft vornehmen. Kein Vorstandsmitglied kann sich etwa darauf zurückziehen, dass weder Finanzen noch die jeweilige Tochtergesellschaft in seinen Ressort-Verantwortungsbereich fällt.
Beispiel 2: Entscheidung über größere Finanzierungen
Ein bislang ausschließlich in Deutschland tätiger Konzern plant die Aufnahme eines hohen Investitionskredits, um das Geschäft zu internationalisieren (etwa durch den Bau von Produktionsanlagen und Vertriebsbüros im Ausland). Die Höhe des Kreditbetrags stellt ein finanzielles Risiko für den Fortbestand des Unternehmens dar, sollte die Investition floppen.
In diesem Fall kann sich kein Vorstandsmitglied dadurch enthaften, dass der CFO und der Vorstandsvorsitzende die Kreditkonditionen aushandelten und die Entscheidung strategisch vorbereiteten. Die übrigen Vorstandsmitglieder müssen sich ebenfalls selbständig und detailliert über das Vorhaben informieren und die Auswirkungen auf die Gesellschaft bewerten, bevor sie über die Kreditaufnahme entscheiden.
Beispiel 3: Auswahl des dem Vorstand unmittelbar nachgeordneten Personals
Die zweite, dem Vorstand direkt unterstellte Management-Ebene hat oft weitreichende operative Befugnisse und kann die Geschicke des Unternehmens in der Regel maßgeblich beeinflussen. Die Auswahl dieser Führungskräfte kann daher nicht allein dem ressortverantwortlichen Vorstand überlassen bleiben. Die Entscheidung über die Einstellung des Führungspersonals ist durch den gesamten Vorstand zu treffen.
Beispiel 4: Berichterstattung an den Aufsichtsrat
Der Aufsichtsrat kann den Vorstand nur dann pflichtgemäß überwachen, wenn der Vorstand ihm alle Informationen über die Geschäftsentwicklung lückenlos und wahrheitsgemäß zur Verfügung stellt. Den inhaltlichen Umfang und die Häufigkeit dieser Berichte regelt § 90 AktG.
Ein Vorstandsmitglied, das blind darauf vertraut, dass sein für die Vorbereitung der Berichterstattung zuständiger Vorstandskollege die erforderlichen Berichte vollständig und wahrheitsgemäß zusammenstellt, haftet für etwaige Lücken – etwa wenn der Vorstandskollege kritische Themen und Entscheidungen gegenüber dem Aufsichtsrat unterschlägt.
Beispiel 5: Stellen eines Insolvenzantrags
Ein Vorstandsmitglied erhält die Rückmeldung von Lieferanten, dass größere Rechnungen nicht beglichen wurden. Spätestens jetzt trifft ihn – auch wenn er nicht Finanzvorstand ist – die Pflicht, intern Informationen über die Gründe für die Zahlungsverzüge einzuholen.
In Liquiditätskrisen tragen alle Vorstandsmitglieder, nicht nur der Finanzvorstand, die Verantwortung dafür, dass die Verbindlichkeiten des Unternehmens erfüllt werden. Hat ein Vorstandsmitglied Grund zur Annahme, dass Zahlungsunfähigkeit eingetreten ist, so ist er nach § 15a InsO verpflichtet, einen Insolvenzantrag zu stellen. Diese Pflicht betrifft jedes Vorstandsmitglied gleichermaßen und unabhängig von der Beurteilung der Lage durch die übrigen Vorstandsmitglieder.
2. Ressortbezogene Pflichten
Regelmäßig weisen Vorstände durch eine interne Geschäftsverteilung spezifische Aufgabenbereiche des Gesamtvorstands wie Finanzen, Personal oder Recht einzelnen Vorstandsmitgliedern zu. Der Grundsatz der umfassenden Gesamtzuständigkeit kann durch eine solche Geschäftsverteilung in Ressorts modifiziert werden.
2.1 Formelle Voraussetzungen
Eine bloße „faktische Geschäftsverteilung“ ohne Grundlage in der Satzung oder der Geschäftsordnung des Vorstands bietet keinen haftungsbeschränkenden Schutz für die Vorstandsmitglieder, die nicht für das jeweilige Ressort zuständig sind. Um haftungsrechtlich wirksam zu sein, muss die Aufteilung bestimmte formale Mindestanforderungen erfüllen. Dazu gehört eine klare schriftliche Regelung der internen Zuständigkeitsverteilung des Vorstands in der Geschäftsordnung, in einer Satzung oder durch einen förmlichen Vorstandsbeschluss.[2] Zudem müssen die einzelnen Ressorts so aufgeteilt werden, dass sie eindeutig voneinander abgrenzbar sind.
2.2 Zentrale Pflichten im Ressort
Das jeweilige Vorstandsmitglied übernimmt die volle Verantwortung für sein Ressort. Diese Verantwortung umfasst im Wesentlichen Aufsichts-, Organisations- und Berichtspflichten.
Aufsichtspflichten
Das für ein Ressort zuständige Vorstandsmitglied führt die Aufgaben seines Bereichs in der Regel nicht selbst aus, sondern überträgt sie an untergeordnete Mitarbeiter. Daher besteht die Hauptverantwortung des Vorstandsmitglieds in der Überwachung und Kontrolle dieser Mitarbeiter.
Die Aufsichtspflicht des für ein Ressort verantwortlichen Vorstandsmitglieds beinhaltet unter anderem die sorgfältige Auswahl qualifizierter und zuverlässiger Mitarbeiter, ihre Einarbeitung und Schulung sowie die Überwachung ihrer Tätigkeit.
Organisationspflichten
Das für ein Ressort verantwortliche Vorstandsmitglied muss zudem den reibungslosen organisatorischen Ablauf sicherstellen, ausreichende personelle und materielle Ressourcen bereitstellen und bei Unregelmäßigkeiten rechtzeitig eingreifen. Innerhalb seines Ressorts ist es auch dafür verantwortlich, eine klare Zuständigkeitsverteilung festzulegen und bei Problemen spezifische Anweisungen zu erteilen.
Berichtspflichten
Das für ein Ressort zuständige Vorstandsmitglied hat zudem die Pflicht, die anderen Vorstandsmitglieder über wesentliche Vorgänge in seinem Bereich zu informieren und regelmäßig Bericht zu erstatten. Diese Berichte werden im Rahmen der Vorstandssitzungen erstattet.
Beispiel: Pflichtenkreis des Vertriebsvorstands
Das Vorstandsmitglied, das für das Vertriebsressort verantwortlich ist, überwacht somit alle Aspekte des Verkaufs und der Kundenbeziehungen. Es entwickelt und implementiert Vertriebsstrategien, um die Umsatzziele des Unternehmens zu erreichen und sorgt dafür, dass die Vertriebsmitarbeiter gut geschult sind und die Verkaufsprozesse effizient ablaufen. In den Vorstandssitzungen berichtet das Vorstandsmitglied über die Vertriebsergebnisse. Das kann beispielsweise die erreichten Verkaufszahlen und Umsatzziele, die aufgewendeten Ressourcen, erzielte Marktanteile und die Kundenfeedbacks einschließen.
3. Kontrolle innerhalb des Vorstands
Vorstandsmitglieder sind also nicht direkt für die Pflichten innerhalb des Ressorts anderer Vorstandsmitglieder verantwortlich. Sie haben aber die Pflicht zur Kontrolle und Überwachung der Vorstandskollegen – und haften für Fehler in fremden Ressorts, sofern sie selbst ihre Kontroll- und Überwachungspflichten verletzen.
Diese „horizontalen“ Kontroll- und Überwachungspflichten umfassen in erster Linie eine Informationspflicht, die sich bei vermuteten Unregelmäßigkeiten in einem fremden Ressort zu einer Überwachungs- und in Krisenzeiten sogar zu einer Handlungspflicht ausweiten kann.
3.1 Im Normalfall: Informationspflicht
Im Einklang mit der Berichtspflicht des ressortverantwortlichen Vorstandsmitglieds müssen sich die ressortfremden Vorstandsmitglieder über die Vorgänge in den anderen Ressorts informieren. Das Ausmaß der Informationspflicht variiert je nach Bedeutung des Ressorts, der Art, Größe und Struktur des Unternehmens sowie der Erfahrung des zuständigen Vorstandsmitglieds.
Bei der konkreten Ausgestaltung des Informationssystems ist der Vorstand frei. In der Praxis reicht es in der Regel aus, wenn die Vorstandsmitglieder in den Sitzungen über die wichtigsten Vorgänge in ihrem Bereich berichten. Die ressortfremden Vorstandsmitglieder nehmen diese Informationen entgegen und stellen bei Bedarf Rückfragen. Es besteht – abseits von Krisenzeiten – der Vertrauensgrundsatz: Solange die Berichte des zuständigen Vorstandsmitglieds keine Unregelmäßigkeiten aufzeigen, können die ressortfremden Vorstandsmitglieder davon ausgehen, dass die Geschäfte ordnungsgemäß ablaufen.[3]
3.2 Gesteigerte Überwachungspflichten bei Unregelmäßigkeiten
Die Verantwortlichkeiten der ressortfremden Vorstandsmitglieder nehmen zu, wenn Hinweise auf Unregelmäßigkeiten in einem anderen Ressort vorliegen. Bei Verdacht auf Fehlentwicklungen sind sie verpflichtet, diesen nachzugehen und bei Bestätigung des Verdachts Gegenmaßnahmen zu ergreifen.[4]
Leicht erkennbar ist hier in der Praxis ein Graubereich eröffnet: Wann ist die Schwelle überschritten, ab der ein Vorstandsmitglied in das Ressort eines Kollegen eingreifen muss? Wie schwerwiegend müssen die vermuteten Fehlentwicklungen sein, um ein Eingreifen überhaupt zu rechtfertigen? Und welche Maßnahmen sind verhältnismäßig und geboten, um im konkreten Fall Nachforschungen anzustellen? So könnte ein Vorstandsmitglied zwar Mitarbeiter aus einem anderen Geschäftsbereich befragen und Unterlagen von ihnen einfordern – stellt sich dann allerdings heraus, dass sich Hinweise auf Fehlentwicklungen nicht bewahrheiteten, so dürfte das Vertrauen zwischen den Vorstandskollegen oft irreparabel beschädigt sein. In der Praxis gleicht die Überwachungspflicht zwischen Vorstandskollegen daher oft dem Ritt auf der Rasierklinge.
4. Konsequenzen
Der Grundsatz der Gesamtverantwortung führt zu einer umfassenden Haftung jedes einzelnen Vorstandsmitglieds. Durch Ressortaufteilung kann zwar in beschränktem Maße eine Verantwortungs- und damit zum Teil auch Haftungsabgrenzung zwischen den Vorstandmitgliedern erzielt werden.
Doch jedem Vorstandsmitglied muss trotzdem klar sein: Selbst durch die Delegation von Pflichten und die Aufteilung der Zuständigkeiten in verschiedene Ressorts kann keine vollständige Haftungsentlastung erreicht werden. Denn jedes Vorstandsmitglied hat die Tätigkeit der Vorstandkollegen zu überwachen und bei Hinweisen auf Missstände tätig zu werden. Problematisch ist: Wann solche Hinweise erkennbar waren, ist im Nachgang oft eine Frage der Interpretation durch Gerichte.
Die Funktionsweise der D&O-Versicherung verschärft die ressortübergreifende Haftung paradoxerweise noch. Denn oftmals versagt der D&O-Versicherer einem Vorstand aufgrund vermeintlich wissentlicher Pflichtverletzung den Versicherungsschutz. Um dennoch aus der Versicherung eine Kompensation für den Schaden zu erhalten, nimmt das Unternehmen dann die Vorstandskollegen in den Blick: Wenn die Verfehlung des einen Managers an Vorsatz grenzte, hätten die Kollegen dann nicht etwas bemerken müssen? Haben sie demnach ihre Kontroll- und Überwachungspflicht verletzt? Schadensersatzansprüche gegen den übrigen Vorstand geltend zu machen, wird dann umso attraktiver.
Für Manager bedeutet das: Vertrauen in die Kollegen ist gut, dokumentierte Kontrolle ist besser. Und neben einer tragfähigen und auskömmlichen D&O-Deckung des Unternehmens kann eine persönliche Zusatzdeckung (D&O und Strafrechtsschutz) sinnvoll sein.
Autor: Dr. Mark Wilhelm
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift Die VersicherungsPraxis 10-2024, S. 34 ff.
Rechtsprechung:
[1] LG München I, „Neubürger“-Urteil vom 10. Dezember 2013 - 5HK O 1387/10
[2] OLG Koblenz NZG 1988, 953; BFH ZIP 1984, 1345.
[3] BGH NJW 2000, 2364, 2366.
[4] BGH NJW 1997, 130, 132
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