Zahlungen nach Insolvenzreife – (schon wieder) nicht von der D&O gedeckt?

Es ist die Horrorvorstellung jedes Geschäftsführers: Die Umsätze sind im Sinkflug und das Kapital ist aufgebraucht. Doch der Geschäftsführer glaubt an den Turnaround. Ein neuer Großauftrag – und das Unternehmen wäre wieder auf Kurs. Bis dahin weiter investieren, Rechnungen begleichen, Verpflichtungen erfüllen…

Aber die Rettung kommt nicht, das Unternehmen rutscht in die Insolvenz. Später wird der Insolvenzverwalter behaupten, der Geschäftsführer hätte schon Wochen zuvor Insolvenz anmelden müssen. Die zu Lasten der anderen Gläubiger in diesem Zeitraum geleisteten Zahlungen an Lieferanten – mehrere hunderttausend Euro – soll der Geschäftsführer nun aus seinem persönlichen Vermögen erstatten.

Die Forderung des Insolvenzverwalters auf Erstattung von Zahlungen nach Insolvenzreife (gemäß § 15b InsO) gehört zu den größten Haftungsrisiken für Manager. Umso wichtiger ist, dass derartige Ansprüche von der D&O-Versicherung gedeckt sind. Nachdem diese Frage zugunsten der versicherten Manager entschieden schien, droht die Deckung nun jedoch wieder zu kippen.

1. Vorgeschichte: Rückzahlungsansprüche und die D&O-Deckung

Ob Ansprüche auf Erstattung von Zahlungen nach Insolvenzreife einen versicherten Haftpflichtanspruch im Sinne der D&O-Versicherungsbedingungen darstellen, war über viele Jahre juristisch umstritten. Schließlich beendet der BGH die Diskussion mit einem aus Sicht der versicherten Manager begrüßenswerten Urteil (BGH, Urteil vom 18. November 2020 - Az. IV ZR 217/19).

1.1 Lange Diskussion über D&O-Deckung 

D&O-Versicherungen gewähren dem versicherten Manager Schutz für den Fall, dass er „aufgrund gesetzlicher Haftpflichtbestimmungen für einen Vermögensschaden auf Schadenersatz in Anspruch genommen wird.“ (vgl. Ziff. A-1 AVB D&O Musterbedingungen des GDV).

Die Formulierung zeigt bereits, dass für einen Versicherungsfall einiges zusammenkommen muss: gesetzliche Haftpflichtbestimmungen, ein Vermögensschaden, eine Inanspruchnahme auf Schadensersatz. Sind diese Deckungsvoraussetzungen im Fall einer Forderung des Insolvenzverwalters auf Erstattung widerrechtlich geleisteter Zahlungen erfüllt?

Einige Juristen argumentierten, die Haftung nach – damals – § 64 S. 1 GmbHG a.F. (mittlerweile in § 15b Abs. 4 InsO aufgegangen) sei ein „Ersatzanspruch eigener Art“. Es handele sich nicht um einen „gesetzlichen Haftungsanspruch wegen eines Vermögensschadens“, wie ihn (klassische) D&O-Versicherungsbedingungen zur Voraussetzung für den Versicherungsfall machen. Schließlich erleide nicht das Unternehmen einen Schaden, sondern die Gläubigergesamtheit, so eines der Argumente. 

Die Frage war umstritten und das Problem im D&O-Markt bekannt. Neuere Bedingungen schlossen daher Ansprüche nach § 64 GmbHG a.F. über einen Zusatz ausdrücklich ein. Doch viele versicherte Manager, deren Policen keinen expliziten Einschluss vorsahen, gingen leer aus. Denn die Gerichte folgten der Argumentation, u.a. das OLG Düsseldorf (Urteil v. 20. Juli 2018, I-4 U 93/16) und das OLG Frankfurt a.M. (Urteil vom 7. August 2019, 3 U 6/19 ).

1.2 Entscheidung des BGH 

In einer wichtigen und vielbeachteten Entscheidung stellte der BGH schließlich 2020 klar: Ansprüche auf Erstattung von Zahlungen nach Insolvenzreife sind von der D&O-Versicherung gedeckt. Ob es sich bei Ansprüchen gegen den Geschäftsführer um versicherte Schadensersatzansprüche im Sinne der Bedingungen handele, sei allein aus Sicht der durchschnittlichen versicherten Person zu beurteilen, so die Karlsruher Richter. Ausgehend vom Wortlaut der Klausel und dem für ihn erkennbaren Zweck der D&O-Versicherung werde der durchschnittliche Versicherungsnehmer/Versicherte den Anspruch aus § 64 GmbHG a.F. als Schadensersatzanspruch im Sinne der Versicherungsbedingungen ansehen.

Damit kassierte der BGH die bis dahin ergangene obergerichtliche Rechtsprechung und schuf Rechtssicherheit für die versicherten Manager. Daran, dass Erstattungsansprüche des Insolvenzverwalters grundsätzlich unter die D&O-Deckung fallen, ist heute versicherungsrechtlich nicht mehr zu rütteln, denn die BGH-Entscheidung ist auf den neuen § 15b InsO und unterschiedliche D&O-AVB übertragbar.

2. Damoklesschwert Wissentlichkeit 

Fällt ein Anspruch grundsätzlich in den Deckungsumfang der D&O-Versicherung, so kann der Versicherer trotzdem leistungsfrei sein, sofern ein Ausschluss greift. In der Managerhaftpflichtversicherung hat der Ausschluss der wissentlichen Pflichtverletzung die größte Praxisrelevanz: Pflichtverletzungen, die der versicherte Manager wissentlich beging, sind vom Versicherungsschutz ausgeschlossen. Voraussetzung ist, dass der Manager die Pflicht positiv kannte (Pflichtbewusstsein) und sich zudem des Verstoßes gegen die Pflicht bewusst war (Pflichtverletzungsbewusstsein).

2.1 In der Krise steigt das Risiko der Wissentlichkeit

In Liquiditätskrisen des Unternehmens steigt der Zeitdruck und verengt sich der Handlungsspielraum für das Management. Das Risiko einer wissentlichen Pflichtverletzung steigt in dieser Situation, etwa wenn der Entscheidungsträger versucht, durch kurzfristige Rettungsmaßnahmen die Insolvenz noch abzuwenden. Der Manager nimmt die mögliche Pflichtverletzung dann mitunter aufgrund des vermeintlich guten Zwecks in Kauf. 

2.2 Versicherer muss Wissentlichkeit beweisen

Behauptet der D&O-Versicherer, der Manager habe eine Pflicht wissentlich verletzt, trägt der Versicherer hierfür die Darlegungs- und Beweislast. Er muss hinreichende Anknüpfungstatsachen vortragen, die eine Wissentlichkeit nahelegen. Die Darlegungs- und Beweislast für die Wissentlichkeit stellt eine hohe Hürde für den Versicherer dar, schließlich erfordert sie eine „Smoking Gun“, etwa eine Email oder ein Sitzungsprotokoll, aus dem das Wissen des versicherten Managers zum Zeitpunkt der Pflichtverletzung klar hervorgeht.

3. Insolvenzantrag als Kardinalpflicht?

Um die hohe Hürde der Darlegungs- und Beweislast für die Wissentlichkeit zu umgehen, entlehnten einige Juristen den Begriff der „Kardinalpflicht“ aus dem Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (Kardinalpflichten bezeichnen im AGB-Recht wesentliche Hauptpflichten, die dem jeweiligen Vertragstypus innewohnen). Sofern es „Kardinalpflichten“ der Geschäftsführung tatsächlich gibt, könnte dies den D&O-Versicherungsschutz nach Insolvenzen empfindlich einschränken.

3.1 Exkurs: Was sind „Kardinalpflichten“?

„Kardinalpflichten“ finden sich weder im Versicherungsvertragsgesetz noch in den üblichen Versicherungsbedingungen. Es handelt sich – im Versicherungsrecht – um eine Art umgangssprachlichen Ausdrucks für „elementare berufliche Pflichten“, deren Definition der BGH in seiner Rechtsprechung zur Berufshaftpflichtversicherung entwickelte: 

„Elementare berufliche Pflichten, [sind Pflichten,] deren Kenntnis nach der Lebenserfahrung bei jedem Berufsangehörigen vorausgesetzt werden kann“. (BGH, Urteil vom 17. Dezember 2014 – IV ZR 90/13)

„Elementare berufliche Pflichten“ sind in der Rechtsprechung zwingend an ein konkretes Berufsbild geknüpft. So stellt die Pflicht, Gerichtstermine wahrzunehmen, eine elementare berufliche Pflicht des Rechtsanwalts dar (OLG Köln, Urteil vom 29. November 2011, 9 U 75/11, VersR 2012, 560). Die Pflicht, nicht ohne Baugenehmigung bauen zu lassen, ist elementare berufliche Pflicht des Architekten (OLG Saarbrücken, Urteil vom 15. April 1992, 5 U 105/88, VersR 1993, 85).

Verletzt ein Versicherungsnehmer eine elementare Pflicht seines Berufsstands, so gehen die Gerichte von einer wissentlichen Pflichtverletzung aus. Die Beweislast fällt dann vom Haftpflichtversicherer auf den Versicherungsnehmer. Dieser muss nun darlegen und beweisen, warum er zwar objektiv eine Pflicht verletzte, die (angeblich) jeder seines Berufsstands kennen sollte, dies ihm aber aufgrund subjektiver Umstände trotzdem nicht bewusst war. Diese Hürde ist oft kaum zu meistern – mit der Folge, dass der Versicherungsschutz entfällt. Es ist also im Interesse des Versicherers, Pflichten zu Kardinalpflichten zu erklären, um sich so der Beweislast für die Wissentlichkeit zu entledigen.

3.2 Aktuelle Rechtsprechung zur Insolvenzantragspflicht

Bisher war umstritten, ob Geschäftsführer und Vorstände „elementare berufliche Pflichten“ treffen. Schließlich ist Vorstand kein Beruf, sondern eine Positionsbezeichnung innerhalb der Unternehmenshierarchie. Das Tätigkeitsfeld – und damit der Pflichtenkreis – von Vorständen kann je nach Branche, Unternehmensgröße und Vorstandsressort stark variieren. 

Zwei jüngere Entscheidungen scheinen nun aber eine fragwürdige Tendenz der Gerichte zu festigen, auch für Manager Kardinalpflichten definieren zu wollen. Beide Entscheidungen betrafen die Pflicht der Geschäftsführung, rechtzeitig Insolvenzantrag zu stellen. Die erste Entscheidung erging im gleichen Verfahren vor dem OLG Frankfurt a.M., in dem der BGH wenige Monate zuvor die Entscheidung der Vorinstanz zu Ansprüchen aus § 64 GmbHG a.F. aufgehoben hatte (OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 28. April 2021, 3 U 6/19). Im nach Frankfurt zurückverwiesenen Prozess urteilte das Gericht nun, Deckung bestehe nicht, da der Geschäftsführer wissentlich seine Insolvenzantragspflicht verletzt habe. Diese Pflicht sei eine Kardinalpflicht der Geschäftsführung.

Das OLG Köln folgte kurz darauf mit einer ähnlichen, etwas weiter ausführenden Entscheidung und urteilte:

„Von dem Geschäftsführer einer GmbH wird erwartet, dass er sich über die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft stets vergewissert. Hierzu gehört insbesondere die Prüfung der Insolvenzreife. […] Organmitgliedern, die gleichermaßen ‚blind in die Krise segeln‘, wird man daher deckungsrechtlich die Verletzung einer Kardinalpflicht vorwerfen, die bereits durch die Evidenz der Pflichtverletzung den Rückschluss auf das Vorliegen einer wissentlichen Pflichtverletzung indiziert.“ (OLG Köln, Urteil vom 16. November 2021, 9 U 253/20, Rn. 49)

Die hochgehobene Bedeutung der Insolvenzantragspflicht sei unter anderem daran zu erkennen, dass ihre Verletzung auch strafrechtlich geahndet werden könne. Im vor dem OLG Köln verhandelten Fall war der Manager wegen Insolvenzverschleppung verurteilt worden. 

3.3 Konsequenzen für die D&O-Versicherung

Folgt die Rechtsprechung den beiden OLG-Entscheidungen, dann ist die Deckung von Zahlungen nach Insolvenzreife unter der D&O-Versicherung grundsätzlich in Gefahr. Denn Zahlungen nach Insolvenzreife setzen einen pflichtwidrig versäumten Insolvenzantrag voraus. Wertet man jede Versäumnis eines Insolvenzantrags als Kardinalpflichtverletzung, dann fielen die meisten daraus resultierenden Vermögensschäden unter den Ausschluss der wissentlichen Pflichtverletzung – sofern der Manager nicht das Kunststück vollführt darzulegen, dass er aus guten persönlichen Gründen „blind in die Krise segelte“. In der Liquiditätskrise und Insolvenz stünden Manager also letztlich sehr häufig ohne Versicherungsschutz dar.

4. Kritik

Weder die Richter in Frankfurt noch in Köln hätten des Hebels der Kardinalpflicht bedurft. In beiden Fällen hatten die beklagten Versicherer Tatsachen vorgetragen (z.B. Email-Korrespondenz des Geschäftsführers), die darauf hindeuteten, dass der Geschäftsführer den Insolvenzantrag wissentlich zu spät stellte. In einem der beiden Fälle hatte ein anderes Gericht zuvor die Insolvenzverschleppung durch schuldhaftes Zögern des Managers rechtskräftig festgestellt. Es gab für die Richter also keine argumentative Not, die Insolvenzantragspflicht zu einer Kardinalpflicht zu erhöhen und damit dem Versicherer die Beweislast zu nehmen. Bedauerlich ist, dass der BGH die erneute Revision im Frankfurter Verfahren nicht zuließ.

Offen bleibt die Frage: Wenn ich die Insolvenzreife nicht erkenne, handle ich dann wissentlich pflichtwidrig – nur weil ich weiß, dass Geschäftsführer grundsätzlich in der Insolvenz einen Insolvenzantrag stellen müssen? Angesichts der drohenden persönlichen Konsequenzen einer Insolvenzverschleppung dürften die wenigsten Geschäftsführer tatsächlich so blind in die Krise segeln, wie es das OLG Köln unterstellt. Krisen sind komplex, oft hat der Manager gute Gründe, an den Fortbestand des Unternehmens zu glauben. Und hinterher ist man bekanntermaßen immer schlauer.

Zudem gilt es zu bedenken: Nicht jede Zahlung nach Insolvenzreife ist per se pflichtwidrig. Zahlungen, die mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar sind, sind vom Zahlungsverbot ausgenommen. Das können nach § 15b Abs. 2 InsO zum Beispiel Zahlungen sein, die der Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs dienen. Solche Zahlungen muss der Manager nicht erstatten. Der Geschäftsführer muss mit verlässlichem D&O-Rechtsschutz deshalb zumindest die Chance haben dürfen, sich gegen die Schadensersatzforderung verteidigen zu dürfen. Der Kardinalpflichteinwand steht dem jedoch entgegen.

5. Fazit

Warum Versicherer in Fällen der Insolvenz des Versicherungsnehmers das pauschale Recht auf eine Umkehr der Beweislast für den mächtigen Ausschluss der Wissentlichkeit haben sollten, erschließt sich nicht. 

Die aktuelle Tendenz der Rechtsprechung zu Kardinalpflichten der Geschäftsführung ist daher bedenklich. Unternehmen zahlen hohe Prämien an die D&O-Versicherer, damit ihre Entscheidungsträger auch in einer etwaigen Unternehmenskrise ausreichend haftpflichtversichert sind. Die Erhöhung der Insolvenzantragspflicht zur „Kardinalpflicht“ hilft nicht, das Vertrauen in die D&O-Versicherung zu stärken. 

Manager sind gut beraten, alle ihre Entscheidungen auch in der Krise umfassend zu dokumentieren. Dann können sie im Streitfall darlegen und beweisen, warum sie zum fraglichen Zeitpunkt eine positive Fortführungsprognose – und eben keinen Insolvenzgrund – sahen. Nur so können sie sich gegen das Totschlagargument Kardinalpflicht zur Wehr setzen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift Die VersicherungsPraxis Ausgabe 06-2024, S. 33 ff.

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