„Kardinalpflichtverletzung“ des Vorstands – Einfallstor für die Deckungsablehnung in der D&O-Versicherung?

In der D&O-Versicherung ist der Ausschluss von Haftpflichtansprüchen, die auf einer vermeintlich wissentlichen Pflichtverletzung des Vorstands (beziehungsweise Geschäftsführers) beruhen, das schärfste Schwert des Versicherers zur Ablehnung seiner Deckung. 

Teilweise argumentieren Versicherer bzw. deren eingeschaltete Rechtsanwälte, dass bereits durch das Unterschreiben eines Dokumentes durch einen Vorstand eine wissentliche Pflichtverletzung vorliege, wenn sich dieser über den Inhalt seiner eigenen rechtsgeschäftlichen Willenserklärung keine ausreichende Kenntnis verschafft habe. Dann käme es auch nicht mehr darauf an, ob sich der Vorstand auf subjektiver Ebene überhaupt darüber bewusst war, dass er eine Pflicht verletzte, weil er seine Unterschrift bspw. für eine Formalie hielt. Allein die äußere Verletzung einer vorstandbezogenen „Kardinalpflicht“ (keine Unterschrift auf unzureichender Kenntnislage) lasse den Schluss darauf zu, dass der Vorstand auch mit subjektivem Pflichtverletzungsbewusstsein gehandelt habe. Mit der Erfüllung des objektiven Tatbestands einer Kardinalpflichtverletzung sei gleichzeitig auch der subjektive Tatbestand dieses Risikoausschlusses erfüllt. Auf die Beweislastverteilung (der Versicherer ist grundsätzlich für den Ausschluss voll beweispflichtig) komme es entsprechend nicht mehr an. 

Solchen ausufernden Auslegungen des Ausschlusses der wissentlichen Pflichtverletzung soll im Folgenden entgegen getreten werden. 

1. Begriff der Kardinalpflicht

Die „Kardinalpflicht“ ist keine feststehende Rechtsbezeichnung im Versicherungsrecht oder im Versicherungsvertragsgesetz. Auch die in der D&O-Versicherung üblicherweise verwendeten Allgemeinen Versicherungsbedingungen kodifizieren den Begriff der „Kardinalpflicht“ nicht. Der Begriff der Kardinalpflicht stammt aus dem Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen und bezeichnet dort wesentliche Hauptpflichten, die dem jeweiligen Vertragstypus innewohnen. 

Richtigerweise spricht der Bundesgerichtshof im Kontext der wissentlichen Pflichtverletzung üblicherweise nicht von „Kardinalpflichten“, sondern von der Verletzung „elementarer beruflicher Pflichten“, wenn er aus einer objektiven Pflichtverletzung (ausnahmsweise) auf ein Pflichtverletzungsbewusstsein schließt. So lauten beispielsweise die beiden Leitsätze des Urteils des BGH vom 17. Dezember 2014[1] wie folgt: 

„1. Für den Ausschlussgrund der Wissentlichkeit der Pflichtverletzung ist der Versicherer darlegungs- und beweispflichtig. 

2. Hierfür hat er – wenn es sich nicht um die Verletzung elementarer beruflicher Pflichten handelt, deren Kenntnis nach der Lebenserfahrung bei jedem Berufsangehörigen vorausgesetzt werden kann – Anknüpfungstatsachen vorzutragen, die als schlüssige Indizien für eine wissentliche Pflichtverletzung betrachtet werden können. Erst wenn dies geschehen ist, obliegt es dem Versicherungsnehmer im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast, Umstände aufzuzeigen, warum die vorgetragenen Indizien den Schluss auf eine wissentliche Pflichtverletzung nicht zu lassen.“

2. Kardinalpflichtverletzung in der Rechtsprechung 

In der Rechtsprechung ist unstreitig, dass nur die Verletzung berufsspezifischer Pflichten eine solche Verletzung elementarer beruflicher Pflichten darstellen kann. 

Es ist bspw. die elementare Berufspflicht eines Rechtsanwalts, einen Gerichtstermin wahrzunehmen und kein Versäumnisurteil gegen seinen Mandanten ergehen zu lassen, und auch den Mandanten über den Verfahrensstand zu unterrichten.[2]

Das OLG Saarbrücken sah eine Verletzung elementarer beruflicher Pflichten darin, dass ein Architekt die Bauarbeiten begann, obwohl die von ihm beantragte Baugenehmigung noch nicht erteilt worden war. [3] 

Die Konkretisierung der berufsspezifischen Pflicht ist also vom jeweiligen Berufsbild abhängig, wie z. B. die Einholung einer Baugenehmigung vor Baubeginn als Kardinalpflicht des Architekten oder die Wahrnehmung des Termins zur mündlichen Verhandlung zur Abwendung einer rechtskräftigen Verurteilung als Kardinalpflicht eines Rechtsanwaltes. 

3. Übertragung der Kardinalpflicht auf die Vorstandstätigkeit 

Berufsspezifische Pflichten, die aus der Tätigkeit als Vorstand oder Geschäftsführer folgen, gibt es nicht. Die Vorstandstätigkeit stellt keinen Beruf dar, sondern bezeichnet lediglich die organschaftliche Stellung in einem Unternehmen. Die Tätigkeit als Vorstand ist an keinen bestimmten Beruf und keine bestimmte Ausbildung gebunden. Bezogen auf die Organtätigkeit eines Vorstandes existieren daher von vorneherein keine berufsspezifischen „Kardinalpflichten“, ohne dass diese zuvor für den Einzelfall ausgearbeitet, dargelegt und konkretisiert werden müssten.

Es reicht nicht aus, dass eine versicherte Person eine allgemeine Sorgfaltspflicht verletzt, um von der Pflichtverletzung auf ein Pflichtverletzungsbewusstsein zu schließen. Anderenfalls hinge es davon ab, was der jeweilige Tatrichter für eine besonders „wichtige“ Pflicht hält und was nicht. So könnte letztendlich jedwede Sorgfaltspflicht in den Stand einer „elementaren Berufspflicht“ versetzt werden, nur weil dies nach der subjektiven Auffassung und Lebenserfahrung des Tatrichters besonders evident ist. Hierbei gerieten jedoch die Kategorien durcheinander: Die Verletzung einer besonders wichtigen und auf der Hand liegenden Pflicht mag das Vorliegen einer groben Fahrlässigkeit indizieren, jedoch nicht ein Pflichtverletzungsbewusstsein. Sogenannte „Kardinalpflichten“ sind ausschließlich berufsspezifische und berufstypische Pflichten. 

4. Kenntnisverschaffung vor Unterzeichnung von Dokumenten

Pflichten außerhalb des berufsspezifischen Bezuges sind also keine berufsspezifischen und berufstypischen Elementarpflichten und daher auch keine „Kardinalpflichten“. 

Teilweise argumentieren D&O-Versicherer in Deckungsstreitigkeiten mit dem Vorstand dennoch, dass dieser bereits durch das (fahrlässige) Unterschreiben eines Dokumentes wissentlich eine Kardinalpflicht verletzte, wenn er sich über den Inhalt seiner eigenen rechtsgeschäftlichen Willenserklärung keine ausreichende Kenntnis verschafft habe.

Diese Pflicht – sich im Detail über die Hintergründe des Dokuments zu informieren, das man unterzeichnet – mag eine allgemein Sorgfaltspflicht sein, ist jedoch generell keine berufsspezifische und berufstypische Elementarpflicht eines Vorstandes. 

Vielmehr muss das Gericht umfassend anhand aller Umstände des Einzelfalls würdigen, ob eine elementare Berufspflicht oder auch „Kardinalpflicht“ vorliegt. So führte das OLG Düsseldorf[4] zu den Kardinalpflichten eines Insolvenzverwalters zutreffend aus:

„Die Frage, ob gegen eine Kardinalpflicht verstoßen wurde, hat an dem konkreten Pflichtenverstoß des VN anzusetzen. Keineswegs hat ein Insolvenzverwalter immer dann, wenn er nach § 61 InsO zu Schadenersatz verurteilt wird, zugleich auch einen versicherungsvertraglichen Ausschlusstatbestand verwirklicht, obwohl Insolvenzverwalter selbstverständlich die ‚elementare berufliche Pflicht‘ nach § 61 InsO kennen müssen […].

Entscheidend ist also die Kenntnis der konkreten Pflichtverletzung im Einzelfall, nicht der abstrakte Verstoß gegen die gesetzlichen Pflichten […]“ 

5. Pflichtverletzungsbewusstsein bei Verletzung einer „Kardinalpflicht“

Selbst wenn die Verletzung einer Kardinalpflicht durch einen Vorstand objektiv vorliegen würde, indiziert das nur bei Erkennen der Kardinalpflicht als solcher auch ein Pflichtverletzungsbewusstsein. 

So formuliert beispielsweise das OLG Karlsruhe[5]:

„Für die Verwirklichung der Voraussetzungen nach D.7.7. HHF 2015 genügt nicht jegliche wissentliche Pflichtverletzung, insbesondere nicht ein vorsätzlicher Verstoß gegen allgemeine Sorgfaltspflichten, sondern nur die bewusste Abweichung von bestimmten Vorschriften oder Vorgaben, die dem Umweltschutz dienen. Dies setzt voraus, dass der Betroffene erkennt, dass er gerade gegen eine solche Norm verstößt.“

Selbst wenn man also einmal davon ausgeht, dass ein Vorstand durch die Unterzeichnung eines Dokumentes gegen eine elementare Berufspflicht oder auch „Kardinalpflicht“ verstieß, so fehlt es unter Umständen an einem Bewusstsein des Vorstandes, dass er sich überhaupt im Anwendungsbereich einer solchen „Kardinalpflicht“ befand.

Auch bei Annahme eines vermeintlichen Verstoßes gegen sogenannte Kardinalpflichten muss es dem betroffenen Vorstand gestattet sein im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast plausible Gründe vorzutragen, die eine Verletzung dieser Pflichten erklären. 

Es genügt damit nicht, wenn der Versicherer die bloße Behauptung aufstellt, es läge eine wissentliche Kardinalpflichtverletzung vor.

Der Vorstand darf auf Ebene der sekundären Darlegungslast schildern, warum es zu der Unterzeichnung eines Dokumentes kam, ohne dass der Vorstand die Notwendigkeit erkannte, den Inhalt des unterschriebenen Dokumentes im Detail zu überprüfen. 

Ein möglicher Grund für eine Pflichtverletzung bei Gesamtvertretungsbefugnis im Vorstand kann sein, dass ein Vorstand den Aussagen eines anderen Vorstandes vertraut, und deshalb nicht selbst eine vollständige Detailprüfung des zu unterzeichnenden Dokumentes vornimmt. So ein Vorgehen kann zwar eine fahrlässige Pflichtverletzung darstellen, es reicht aber bei weitem nicht für eine wissentliche Pflichtverletzung (mit dem Argument, der Vorstand habe ja gewusst, dass er nicht alle zu Grunde liegenden Informationen kannte und wissentlich „falsch“ vertraut).

6. Berufserfahrung und Motiv des Vorstandes 

Darüber hinaus ist für die Frage, ob eine Kardinalpflichtverletzung eines Vorstands vorliegt, die berufliche Erfahrung des Betroffenen zu berücksichtigen. Zudem hat das erkennende Gericht sich im Rahmen der sekundären Darlegung mit der Frage auseinanderzusetzen, welches Motiv die versicherte Person gehabt haben sollte, wissentlich gegen Pflichten zu verstoßen: So führt der BGH[6] aus:

„Es [Das Berufungsgericht] setzt sich weder mit der seinerzeit offensichtlichen beruflichen Unerfahrenheit der Kl. noch mit der naheliegenden Frage auseinander, welches Motiv sie gehabt haben sollte, wissentlich gegen die Verpflichtung zu verstoßen, das erhaltene Geld an die X. Bank weiterzuleiten. Stattdessen wird der Klägerin lediglich angelastet, als Rechtsanwältin habe ihr die rechtliche Bedeutung der getroffenen Vereinbarung klar sein müssen und sie habe angesichts des klaren Inhalts des die Überweisung erläuternden Faxes des Versicherers auch nicht annehmen können, das erhaltene Geld sei für die Mandantin bestimmt. Damit ist indessen nur der Vorwurf – möglicherweise auch grober – Fahrlässigkeit begründet, nicht aber positiv festgestellt, dass die Klägerin ihre Verpflichtungslage zutreffend erkannt und sich bewusst darüber hinweggesetzt hat.“

Dass die Berufserfahrung bei der Außerachtlassung von beruflichem Elementarwissen ein maßgeblicher Faktor ist, folgt auch aus einem Urteil des OLG Hamm[7]:

„In der Haftpflichtversicherung besteht Leistungsfreiheit wegen bewusst pflichtwidrigen Verhaltens des Versicherten nur, wenn der Versicherte die verletzte Pflicht gekannt und gewusst hat, wie er sich hätte verhalten müssen. Der dem Versicherer obliegende Beweis hierfür kann erbracht sein, wenn ein Versicherter (hier: Architekt) das Elementarwissen seines Berufs außer Acht gelassen hat. Dies gilt zumal für einen Versicherten mit langjähriger Berufserfahrung.“ (Hervorhebung diesseits)

Schließlich hebt das OLG Koblenz[8] zutreffend hervor, dass das Vertrauen auf die Aussage eines langjährigen Geschäftspartners gegen eine bewusste Pflichtverletzung spricht.

Der Geschäftsführer erweiterte in dieser Entscheidung den Warenkreditrahmen eines Kunden, obwohl er dazu laut Geschäftsführervertrag die Zustimmung des Gesellschafters gebraucht hätte. Das OLG Koblenz lehnte gleichwohl eine bewusste Pflichtverletzung ab und führte aus:

„Gleichwohl kann nicht angenommen werden, dass der Kl. oder die VN Fa. A. zum Zeitpunkt des Abschlusses des Versicherungsvertrages mit der Bekl. positiv erkannt haben, dass die unterlassene Prüfung der Werthaltigkeit der abgetretenen Forderungen möglicherweise objektiv (also unabhängig vom Verschulden) fehlsam war. Denn das bewusste Handeln einer Person vermittelt dieser noch nicht die Erkenntnis, dass das Verhalten möglicherweise pflichtwidrig ist. Hierzu bedarf es vielmehr weiterer Erkenntnis, die eine Bewertung des Handelns als möglicherweise pflichtwidrig begründen. Daran fehlt es vorliegend jedoch. Der Kl. vertraute im Hinblick auf die bereits über 25 Jahre bestehende Geschäftsverbindung auf die Seriosität der Fa. B und daher sowohl der mündlichen Zusage des Firmeninhabers, dass die Forderungen nicht anderweitig abgetreten seien, als auch der – wegen der Abtretung letztlich durch den Endkunden vorzunehmenden – Begleichung der offenen Rechnungen, da die Fa. B. überwiegend öffentliche Auftraggeber hatte, somit an einer Realisierbarkeit der abgetretenen Forderungen keine ernsthaften Zweifel bestanden. …“ [Hervorhebung diesseits]

7. Fazit

Die Verletzung einer Kardinalpflicht als wissentliche Pflichtverletzung in der D&O-Versicherung ist eng auszulegen und dürfte nur in seltenen Fällen zur Anwendung kommen. 

Eine weite Auslegung und Ausdehnung des Anwendungsbereichs von Kardinalpflichtverletzungen auf die Vorstandstätigkeit entwertet den Versicherungsschutz der D&O-Versicherung als „Berufshaftpflichtversicherung für Manager“. Denn das Bejahen einer Kardinalpflichtverletzung kann dazu führen, dass der Vorstand seinen Versicherungsschutz (ggf. auch die Abwehrdeckung) vollständig verliert und mit seinem Privatvermögen für den eingetretenen Schaden haftet. 

Eine Kardinalpflichtverletzung ist deshalb regelmäßig zu verneinen, wenn sich der Vorstand bei Unterzeichnung eines Dokumentes über den Inhalt seiner eigenen rechtsgeschäftlichen Willenserklärung keine ausreichende Kenntnis verschafft hatte. Dies begründet regelmäßig allenfalls eine grob fahrlässige Pflichtverletzung im Sinne der D&O-Versicherungsbedingungen, die den D&O-Versicherungsschutz nicht entfallen lässt. 

Autor: Dr. Fabian Herdter 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift Die VersicherungsPraxis Ausgabe 06-2020

Literatur und Anmerkungen:

[1] BGH vom 17. Dezember 2014, IV ZR 90/13

[2] OLG Köln, Urteil vom 29. November 2011, 9 U 75/11, VersR 2012, 560

[3] OLG Saarbrücken, Urteil vom 15. April 1992, 5 U 105/88, VersR 1993, 85

[4] OLG Düsseldorf, Urteil vom 30. November 2018,  I 4 U 5/18

[5] OLG Karlsruhe, Urteil vom 11. Oktober 2019, 12 W 10/19, r+s 2019, 701

[6] BGH, Urteil vom 28. September 2005, IV ZR 255/04

[7] OLG Hamm, Urteil vom 7. März 2007 (20 U 132/06), VersR 2007, 1550, 1. Leitsatz

[8] OLG Koblenz Urteil vom 18. Juni 2010 (10 U 1185/09), VersR 2011, 1042

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