Zahlung des Versicherers trotz Obliegenheitsverletzung – der Kausalitätsgegenbeweis

Versicherungsnehmer müssen Verhaltensnormen (Obliegenheiten) beachten. Die Verletzung von Obliegenheiten können Versicherer zur teilweisen oder gar vollständigen Kürzung des Versicherungsanspruchs berechtigen. Gelingt dem Versicherungsnehmer der sogenannte Kausalitätsgegenbeweis, behält er trotz Obliegenheitsverletzung den Versicherungsanspruch. 

1. Leistungskürzungsrecht des Versicherers bei Obliegenheitsverletzungen des Versicherungsnehmers

Wenn der Versicherungsnehmer Obliegenheiten verletzt, kann der Versicherer im Schadenfall teilweise oder vollständig leistungsfrei sein. 

Der Gesetzgeber reformierte in 2008 die bis dato geltende Rechtsfolge vollständiger Leistungsfreiheit bei Obliegenheitsverletzungen („Alles-oder-Nichts-Prinzip“). Stattdessen normierte der Gesetzgeber in § 28 VVG (2008) ein abgestuftes Leistungskürzungsrecht des Versicherers. Seit 2008 hat der Versicherer in Abhängigkeit vom Verschuldensgrad, mit dem der Versicherungsnehmer Obliegenheiten verletzt, differenzierte Kürzungsrechte (vgl. 2.1 bis 2.3).

1.1 Keine Kürzung bei einfach fahrlässiger Obliegenheitsverletzung

Verstößt der Versicherungsnehmer einfach fahrlässig gegen Obliegenheiten, ist der Versicherer nicht zur Kürzung der Versicherungsleistung berechtigt. Die einfach fahrlässige Obliegenheitsverletzung bleibt folgenlos (Heiss in Bruck/Möller, VVG, 9. Auflage, Band 1 zu § 28, Rn. 210).

Der Versicherungsnehmer verletzt Obliegenheiten einfach fahrlässig, wenn er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nicht beachtet (Heiss, a.a.O., Rn. 211).

Beispiel 1: Der Versicherungsvertrag bestimmt, dass der Versicherungsnehmer den Versicherer nach Eintritt des Versicherungsfalls schriftlich über den Schaden informieren muss. Informiert der Versicherungsnehmer den Versicherer nur mündlich, beachtet der Versicherungsnehmer die durchschnittliche Sorgfalt nicht. Regelmäßig liegt lediglich eine einfach fahrlässige Obliegenheitsverletzung vor. Die Obliegenheitsverletzung berechtigt den Versicherer nicht zur Leistungskürzung.

1.2 Quotale Leistungskürzung bei grob fahrlässiger Obliegenheitsverletzung

Verletzt der Versicherungsnehmer Obliegenheiten grob fahrlässig, kann der Versicherer die Versicherungsleistung in einem der Schwere des Verschuldens entsprechenden Verhältnis kürzen.

Die Kürzungsquote kann bis zu 100 % betragen (vgl. BGH vom 22. Juni 2011, IV ZR 225/10 in NJW 2011, 3299). Gesetzliche Kürzungsquoten für typische Sachverhalte existieren nicht. Der Versicherer muss die Kürzungsquote stets anhand der Umstände des Einzelfalles ermitteln. Pauschalierungen verbieten sich. Einen Erfahrungssatz, wonach eine grob fahrlässige Obliegenheitsverletzung zumindest eine Kürzung um 50 % rechtfertigt, gibt es nicht. 

Grob fahrlässig handelt der Versicherungsnehmer, wenn er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt gröblich, in hohem Maße außer Acht lässt und dasjenige nicht beachtet, das unter gegebenen Umständen jedem einleuchten müsste (vgl. Pohlmann in Looschelders, VVG Versicherungsvertragsgesetz Kommentar, 2. Auflage, 2011 zu § 28 VVG, Rn. 44).

Beispiel 2: Versicherungsnehmer müssen ihre Gebäude vor Frostschäden schützen. Ein technisch erfahrener Versicherungsnehmer stellt in der Winterzeit nicht sicher, dass die Wasserleitungen seines unbewohnten Gebäudes nicht einfrieren. Die Leitungen platzen auf. Dem Versicherungsnehmer muss die Schadengefahr wegen seines technischen Wissens bewusst gewesen sein. Der Versicherungsnehmer verstößt grob fahrlässig gegen Obliegenheiten des Gebäudeversicherungsvertrages. Der Versicherer ist - vorbehaltlich des Kausalitätsgegenbeweises - zu einer Kürzung der Versicherungsleistung berechtigt. 

1.3 Vollständige Leistungskürzung bei Vorsatz und Arglist

Der Versicherer kann zur vollständigen Kürzung des Versicherungsanspruchs berechtigt sein, wenn der Versicherungsnehmer Obliegenheiten vorsätzlich oder gar arglistig verletzt.

Vorsätzlich handelt derjenige Versicherungsnehmer, dem die Obliegenheit bewusst ist und der gewollt gegen die Obliegenheit verstößt (vgl. Pohlmann a.a.O, Rn. 49; Heiss, a.a.O., Rn. 62).

Beispiel 3: Verlässt ein Autofahrer in Kenntnis seiner Obliegenheit, eine Unfallstelle nicht zu verlassen, die Unfallstelle, begeht er eine vorsätzliche Obliegenheitsverletzung in seinem KFZ-Kaskoversicherungsvertrag (vgl. Klausel E.1.3 AKB 2008). Die vorsätzliche Obliegenheitsverletzung kann den Kaskoversicherer – vorbehaltlich des Kausalitätsgegenbeweises - zur vollständigen Leistungskürzung berechtigen.

Arglistige Obliegenheitsverletzungen setzen betrügerisches Verhalten des Versicherungsnehmers voraus (vgl. Pohlmann, a.a.O., Rn. 50). Arglistiges Verhalten von Versicherungsnehmern, also gesteigerter Vorsatz,  ist ein Ausnahmefall.

Beispiel 4: Ein alkoholisierter Fahrer verlässt unerlaubt den Unfallort, um seine Alkoholisierung vor der Polizei zu verbergen und so seinen Versicherungsanspruch zu erhalten. Der Versicherungsnehmer handelt arglistig. Er hat keinen Anspruch auf Versicherungsleistungen.

2. Kausaltitätsgegenbeweis des Versicherungsnehmers

Selbst wenn der Versicherungsnehmer Obliegenheiten grob fahrlässig oder vorsätzlich verletzt, kann der Versicherer zur vollständigen Versicherungsleistung verpflichtet sein. Dies ist der Fall, wenn dem Versicherungsnehmer der Kausalitätsgegenbeweis gelingt:

§ 28 Abs. 3 VVG: 

„Abweichend von [§ 28] Abs. 2 ist der Versicherer zur Leistung verpflichtet, soweit die Verletzung der Obliegenheit weder für den Eintritt oder die Feststellung des Versicherungsfalls noch für die Feststellung oder den Umfang der Leistungspflicht des Versicherers ursächlich ist. Satz 1 gilt nicht, wenn der Versicherungsnehmer die Obliegenheit arglistig verletzt hat.“

2.1 Voraussetzungen des Kausalitätsgegenbeweises

Für die Leistungspflicht des Versicherers trotz Obliegenheitsverletzung müssen die Voraussetzungen des Kausalitätsgegenbeweises nach § 28 Abs. 3 VVG erfüllt sein.

Persönlicher Anwendungsbereich:

§ 28 Abs. 3 VVG muss auf den Versicherungsfall des jeweiligen Versicherungsnehmers anwendbar sein. Der Kausalitätsgegenweis nach § 28 Abs. 3 VVG darf nicht wirksam vertraglich eingeschränkt oder ausgeschlossen sein.

a) „Normale“ Versicherungsnehmer:

Auf Versicherungsfälle von Versicherungsnehmern, die kein Großrisiko im Sinne des § 210 VVG (vgl. 3.1.1.2) sondern ein „normales“ Risiko versichern lassen, ist § 28 Abs. 3 VVG stets anwendbar. Denn nach § 32 VVG sind vertragliche Einschränkungen oder Ausschlüsse des Kausalitätsgegenbeweises zum Nachteil dieser Versicherungsnehmer nicht möglich:

§ 32 VVG:

„Von den §§ 19 bis 28 Abs. 4 (…) kann nicht zum Nachteil des Versicherungsnehmers abgewichen werden.“

b) Großrisiken:

Auch Versicherungsnehmer, die Großrisiken im Sinne von § 210 VVG versichern lassen, können sich unabhängig von § 32 VVG auf den Kausalitätsgegenbeweis berufen.

Zahlreiche Industrieversicherungsverträge decken Großrisiken (u. a. Sachversicherungsverträge von Versicherungsnehmern mit mindestens 250 Arbeitnehmern und einer Bilanzsumme von EUR 6.200.000,00). Diese Versicherungsnehmer sieht der Gesetzgeber als geschäftserfahren und damit weniger schutzbedürftig an. § 32 VVG gilt deshalb nicht für Versicherungsverträge, die Großrisiken zum Inhalt haben (vgl. § 210 VVG). 

Dennoch können Versicherer den Kausalitätsbeweis für Versicherungsnehmer, die Großrisiken versichern lassen, nicht einschränken oder ausschließen (vgl. u.a. Prölss in Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 28. Auflage, zu § 28, Rn. 63). Dies gilt zumindest dann, wenn der Versicherer den Kausalitätsgegenbeweis in allgemeinen Geschäftsbedingungen einschränken oder ausschließen will. 

Allgemeine Geschäftsbedingungen dürfen gemäß § 307 Abs. 2 Ziffer 1 BGB nicht von wesentlichen Grundgedanken gesetzlicher Regelungen abweichen. Der Kausalitätsgegenbeweis nach § 28 Abs. 3 VVG war ein wesentlicher Grundgedanke der Reform des VVG in 2008. Der Gesetzgeber wollte ein einzelfallgerechtes Leistungskürzungsrecht des Versicherers schaffen. Ein Instrument der Einzelfallgerechtigkeit sollte der Kausalitätsgegenbeweis sein. Aufgrund dessen können Versicherer in allgemeinen Geschäftsbedingungen gegenüber Großrisiken den Kausalitätsgegenbeweis nicht ausschließen. 

Einschränkende Klauseln wären gemäß § 307 Abs. 1 S. 1 BGB unwirksam. Anstelle der unwirksamen Klausel träte der gesetzlich vorgesehene Kausalitätsgegenbeweis (vgl. § 306 Abs. 2 BGB).

Verschuldensgrad:

Der Versicherungsnehmer kann sich nicht bei jeder Art von schuldhafter Obliegenheitsverletzung auf den Kausalitätsgegenbeweis berufen.

Der Kausalitätsgegenbeweis ist nicht möglich, wenn der Versicherungsnehmer eine Obliegenheit arglistig verletzt (vgl. § 28 Abs. 3 S. 2 VVG). 

Verletzt der Versicherungsnehmer eine Obliegenheit grob fahrlässig oder vorsätzlich, kann der Versicherungsnehmer den Kausalitätsgegenbeweis mit der Folge führen, dass der Versicherer zur vollständigen Leistung verpflichtet ist.

Verletzt der Versicherungsnehmer die Obliegenheit einfach fahrlässig, bräuchte er den Kausalitätsgegenbeweis nicht führen, da diese Obliegenheitsverletzung nach § 28 Abs. 2 VVG folgenlos bleibt. Wegen der oft schwierigen Abgrenzung zur grob fahrlässigen Obliegenheitsverletzung sollte der Versicherungsnehmer - soweit möglich - vorsorglich den Kausalitätsgegenbeweis führen.

Keine Ursächlichkeit der Obliegenheitsverletzung:

Damit der Versicherungsnehmer trotz grob fahrlässiger oder vorsätzlicher Obliegenheitsverletzung seinen Versicherungsanspruch behält, darf die Obliegenheitsverletzung weder für den Eintritt oder die Feststellung des Versicherungsfalls noch für die Feststellung oder den Umfang der Leistungspflicht des Versicherers ursächlich gewesen sein. Ansonsten ist dem Versicherungsnehmer der Kausalitätsgegenbeweis verwehrt.

a) Ursächlichkeit der Obliegenheitsverletzung für den Eintritt des Versicherungsfalls:

Die Obliegenheitsverletzung darf  nicht für den Eintritt des Versicherungsfalles kausal sein. 

Die Obliegenheitsverletzung ist nicht für den Eintritt des Versicherungsfalles kausal, wenn das Fehlverhalten des Versicherungsnehmers hinweggedacht werden kann und der Versicherungsfall dennoch eingetreten wäre.

Beispiel 5: Muss ein Versicherungsnehmer nach einem Betriebsinhaltversicherungsvertrag feuerfeste Türen installieren, ist der Versicherer zur Leistung verpflichtet, wenn der Brand in dem Betrieb unabhängig von fehlenden feuerfesten Türen entsteht. Die Verletzung der Obliegenheit, feuerfeste Türen einzubauen, kann hinweggedacht werden, ohne dass der Brand entfiele.

b) Ursächlichkeit für die Feststellung des Versicherungsfalls und des Umfangs der Leistungspflicht:

Darüber hinaus darf die verletzte Obliegenheit nicht für die Feststellung des Versicherungsfalls ursächlich sein. 

Beispiel 6: In Gebäudeversicherungsverträgen muss der Versicherungsnehmer die Schadenstelle (u. a. Brandstelle) unverändert lassen, bis der Versicherer die Schadenstelle und -ursache durch eigene Sachverständige prüfen konnte. Verändert der Versicherungsnehmer entgegen der Obliegenheit die Schadenstelle, ist die Feststellung des Versicherungsfalls nicht zwingend ausgeschlossen. Fertigte der Versicherungsnehmer vor der Veränderung aussagekräftige Fotos und können Zeugen den ehemaligen Zustand der Schadenstelle bestätigen, kann der Versicherer durch die Beweissicherungsmaßnahmen den Versicherungsfall feststellen. Die Obliegenheitsverletzung wäre für die Feststellung des Versicherungsfalls nicht ursächlich gewesen.

Des Weiteren darf die Obliegenheitsverletzung nicht für die Feststellung des Umfangs der Leistungspflicht des Versicherers ursächlich geworden sein. 

Beispiel 7: Wie Beispiel 6, jedoch ist die Beweissicherung des Versicherungsnehmers lückenhaft. Der Versicherer kann den Umfang des aus dem Band entstandenen Schadens nicht mehr erkennen. Folglich wäre die Veränderung der Brandstelle eine für den Umfang der Leistungspflicht ursächliche Obliegenheitsverletzung gewesen. Der Versicherungsnehmer könnte den Kausalitätsgegenbeweis nicht führen.

2.2 Darlegungs- und Beweislast

Im Rahmen des Kausalitätsgegenbeweises gilt folgende Darlegungs- und Beweislastverteilung.

Darlegungs- und Beweislast des Versicherungsnehmers für fehlende Kausalität:

Der Versicherungsnehmer muss darlegen und beweisen, warum die verletzte Obliegenheit weder für den Eintritt des Versicherungsfalls noch für die Feststellung des Versicherungsfalls und den Umfang der Leistungspflicht des Versicherers ursächlich war (vgl. u.a. Heiss, a.a.O., Rn. 221).

Der Versicherungsnehmer muss die vermeintlich kausalen Zusammenhänge zwischen dem Versicherungsfall und der Obliegenheitsverletzung widerlegen (vgl. Pohlmann, a. a. O., Rn. 137).

Besteht die Obliegenheit in einem Unterlassen, genügt der Nachweis, dass der Nachteil des Versicherers auch bei obligationsgemäßen Verhalten eingetreten wäre (vgl. Pohlmann, a.a.O., Rn. 137)

Kann der Versicherungsnehmer darlegen und beweisen, dass die verletzte Obliegenheit für den Versicherungsfall nicht ursächlich war, steht dem Versicherungsnehmer die vollständige Leistung aus dem Versicherungsvertrag zu.

Darlegungs- und Beweislast des Versicherers für Arglist:

Der Versicherer ist trotz fehlender Ursächlichkeit der Obliegenheitsverletzung leistungsfrei, wenn der Versicherungsnehmer arglistig handelte.

Die Darlegungs- und Beweislast für das arglistige Handeln des Versicherungsnehmers trägt der Versicherer (vgl. Heiss, a.a.O., Rn. 215). Kann der Versicherer nicht beweisen, dass der Versicherungsnehmer arglistig, sondern nur vorsätzlich die Obliegenheit verletzte, steht dem Versicherungsnehmer die volle Versicherungsleistung zu.

3. Fazit

Kürzungen der Versicherungsleistung wegen Obliegenheitsverletzungen sollte der Versicherungsnehmer stets kritisch hinterfragen. 

Versicherer behaupten häufig grobe Fahrlässigkeit des Versicherungsnehmers, wo allenfalls eine folgenlose, einfach fahrlässige Obliegenheitsverletzung in Betracht kommt.

Handelte der Versicherungsnehmer grob fahrlässig, existieren keine gesetzlichen Kürzungsquoten. Stets muss der Versicherer alle Umstände des Einzelfalles abwägen und so die angemessene Kürzungsquote ermitteln. Die Praxis zeigt, dass Versicherer den Einzelfall oft nicht ausreichend prüfen und zu hohe Kürzungsquoten wählen.

Ob Versicherungsnehmer den Kausalitätsgegenbeweis führen können und trotz Obliegenheitsverletzung einen Anspruch auf die volle Versicherungsleistung haben, prüfen Versicherer erfahrungsgemäß nicht. Daher ist es Aufgabe des Versicherungsnehmers und seiner Berater, trotz Obliegenheitsverletzung den Versicherungsanspruch durch den Kausalitätsgegenbeweis zu retten.

Autor: Christian Becker

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift Die VersicherungsPraxis 03-2013

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