Das Ende der Transparenz? Die BGH-Entscheidung zur BSV und ihre Folgen

Am 26. Januar 2022 traf der Bundesgerichtshof eine erste Grundsatzentscheidung in Sachen Corona-Betriebsschließungsversicherung. Warum das Urteil kritisch zu sehen ist.

Am 26. Januar 2022 traf der Bundesgerichtshof eine erste Grundsatzentscheidung in Sachen Corona/Betriebsschließungsversicherung (BGH IV ZR 144/21). Der Entscheidung sahen sowohl zahlreiche betroffene Versicherungsnehmer als auch Versicherer mit großer Spannung entgegen.

Mit der Entscheidung verneinte der BGH Versicherungsansprüche eines Gastronomiebetriebs gegen die AXA für die coronabedingte Betriebsschließung im ersten Lockdown 2020. Die Karlsruher Richter stellten dabei vergleichsweise niedrige Anforderungen an die Transparenz von Versicherungsbedingungen. Es bleiben offene Fragen, die nicht nur für die Betriebsschließungsversicherung von Relevanz sind, sondern für die (Industrie-)Versicherung insgesamt.

1. Sachverhalt

Im entschiedenen Streitfall machte der Kläger als Betreiber einer Gaststätte in Schleswig-Holstein Ansprüche aus der Betriebsschließungsversicherung für die coronabedingte Schließung im Frühjahr 2020 geltend.

Dem Versicherungsvertrag liegen die „Zusatzbedingungen für die Versicherung von Betrieben gegen Schäden aufgrund behördlicher Anordnung nach dem Infektionsschutzgesetz (Betriebsschließung) – 2008 (ZBSV 08)“ zugrunde. Die Bedingungen entsprechen weitgehend den GDV Musterbedingungen zur BSV aus 2002 und waren am Markt weit verbreitet. Die Versicherungsbedingungen lauten auszugsweise:

§ 2 Versicherte Gefahren

1. Versicherungsumfang

Der Versicherer leistet Entschädigung, wenn die zuständige Behörde aufgrund des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG) beim Auftreten meldepflichtiger Krankheiten oder Krankheitserreger (siehe Nr. 2) den versicherten Betrieb oder eine versicherte Betriebsstätte zur Verhinderung der Verbreitung von meldepflichtigen Krankheiten oder Krankheitserregern beim Menschen schließt; Tätigkeitsverbote gegen sämtliche Betriebsangehörige eines Betriebes oder einer Betriebsstätte werden einer Betriebsschließung gleichgestellt; […]

2. Meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger

Meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger im Sinne dieser Zusatzbedingungen sind die folgenden, im Infektionsschutzgesetz in den §§ 6 und 7 namentlich genannten Krankheiten und Krankheitserreger:

a) Krankheiten: […]

[es folgt eine Liste mit Krankheiten]

b) Krankheitserreger: […]

[es folgt eine Liste mit Krankheitserregern]

[…]

In § 2 Nr. 2 a) und b) ZBSV 08 sind weder die Krankheit COVID-19, noch der Krankheitserreger SARS-CoV-2 aufgeführt.

Die Schleswig-Holsteinische Landesregierung ordnete mit der SARS-CoV-2-Bekämpfungsverordnung vom 17. März 2020 unter anderem die Schließung von sämtlichen Gaststätten an. 

Mit der Klage begehrt der Kläger die Feststellung, dass die Beklagte ihm zur Leistung aus der Betriebsschließungsversicherung verpflichtet sei. Das LG Lübeck hatte die Klage abgewiesen. Das OLG Schleswig hatte die Berufung des Versicherungsnehmers zurückgewiesen.

2. Entscheidung des BGH

Der BGH wies die Revision des Klägers zurück.

2.1 Keine „intrinsische Gefahr“ erforderlich

Die Vorinstanz war als eines von wenigen Oberlandesgerichten der Argumentation der Betriebsschließungsversicherer gefolgt, dass für den Versicherungsfall in der BSV ein Auftreten des Erregers im Betrieb erforderlich sei (sogenannte „intrinsische Gefahr“). Präventive Allgemeinverfügungen würden daher den Versicherungsfall nicht auslösen können.

Dem erteilte der BGH zu Recht eine Absage. Der Wortlaut der Versicherungsbedingungen liefert für das Erfordernis der „intrinsischen Gefahr“ keine erkennbaren Anhaltspunkte. Auch nach dem aus Sicht des durchschnittlichen Versicherungsnehmers erkennbaren Sinn und Zweck der Betriebsschließungsversicherung mache es keinen Unterscheid, ob der versicherte Betrieb präventiv geschlossen werde, oder konkret aufgrund einer Infektion im Betrieb. 

2.2 Liste versicherter Krankheiten und Erreger sei abschließend

Dennoch stünden dem Kläger gegen die Beklagte keine Ansprüche zu, weil eine Corona-bedingte Betriebsschließung nicht vom Versicherungsschutz umfasst sei. Nach § 2 Nr. 1 a) ZBSV 08 bestehe Versicherungsschutz nur für Betriebsschließungen aufgrund von Krankheiten und Krankheitserregern, die der Katalog in § 2 Nr. 2 ZBSV 08 aufzählt.

Nach dem für die Auslegung von Allgemeinen Versicherungsbedingungen maßgeblichen Verständnis des durchschnittlichen Versicherungsnehmers seien die beiden Listen mit Krankheiten und Krankheitserregern abschließend formuliert. Es handele sich bei dem Katalog also um keine (dynamische) Verweisung auf die §§ 6 und 7 IfSG.  

Der BGH argumentiert zunächst mit dem Wortlaut der Klausel. Der Versicherungsnehmer werde dem Klammerzusatz „siehe Nr. 2“ in § 2 Nr. 1 ZBSV 08 hinter den Worten „meldepflichtiger Krankheiten und Erreger“ entnehmen, dass die vom Versicherungsschutz umfassten meldepflichtigen Krankheiten und Krankheitserreger nur die § 2 Nr. 2 ZBSV 08 aufgezählten seien.

In § 2 Nr. 2 ZBSV 08 werde er an der Überschrift „2. Meldepflichtige Krankheiten oder Krankheitserreger“ und an der Formulierung „meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger im Sinne dieser Bedingungen sind…“ erkennen, dass insoweit eine eigenständige Definition der versicherten Krankheiten und Krankheitserreger in den AVB erfolge. 

Der BGH verkennt meines Erachtens hier, dass die „Meldepflicht“ einer Krankheit ausschließlich aus dem Infektionsschutzgesetz folgen kann. Der Versicherer kann nicht unabhängig vom Gesetz definieren, welche Krankheiten meldepflichtig sind. Schließlich begründen auch nur die gesetzlich meldepflichtigen Krankheiten überhaupt das Risiko einer Betriebsschließung durch die Behörden.

2.3 Hohe Verständnis-Anforderungen an den Versicherungsnehmer

Die Bezugnahme auf die §§ 6 und 7 IfSG in § 2 Nr. 2 ZBSV 08 werde der durchschnittliche Versicherungsnehmer dem BGH zufolge lediglich als Klarstellung verstehen und daraus folgern, dass die abgedruckte Liste mit Krankheiten und Krankheitserregern sich an den im Infektionsschutzgesetz aufgelisteten Krankheiten orientiere. 

Bereits hier wird deutlich, dass der BGH in seiner Entscheidung hohe Anforderungen an das Verständnis des durchschnittlichen Versicherungsnehmers stellt. 

Im Ergebnis soll der Versicherungsnehmer nämlich erkennen, dass obwohl die Versicherungsbedingungen auf das Infektionsschutzgesetz verweisen, es dieser Verweisung gar nicht bedurft hätte und eine eigenständige Definition der versicherten Krankheiten und Krankheitserreger nur im Rahmen der AVB erfolgt. 

2.4 Listenklausel vermeintlich nicht intransparent

Dann stellte der BGH die Klausel in § 2 ZBSV 08 auf den AGB-rechtlichen Prüfstand. Ebenfalls mit ernüchterndem Ergebnis aus Sicht der Versicherungsnehmer.

Die Listen-Klausel halte einer Inhaltskontrolle gemäß § 307 I und II BGB stand. Insbesondere verstoße § 2 Nr. 2 ZBSV 08 gegen das Transparenzgebot des § 307 I S. 2 BGB.

Der durchschnittliche Versicherungsnehmer könne der Klausel entnehmen, dass die abgedruckte Liste abschließend sei und der Versicherer bei anderen Krankheiten und Krankheitserregern keine Deckung gewähre. 

Offenbleiben könne in diesem Zusammenhang, ob die in der Liste genannten Krankheiten und Krankheitserreger identisch mit den im Zeitpunkt des Vertragsschlusses in den §§ 6 und 7 IfSG genannten Krankheiten und Krankheitserregern waren.  

Damit erteilte der BGH auch einem der Kernargumente des OLG Karlsruhe eine Absage, das die Listen-Klausel in dem dort streitgegenständlichen Fall für intransparent befunden hatte, weil zwischen den in der Liste aufgeführten Krankheiten und Krankheitserregern und den Listen in §§ 6 und 7 IfSG (bereits zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses) keine Deckungsgleichheit bestand – ohne, dass die Einschränkung des Versicherungsschutzes dem Versicherungsnehmer verdeutlicht werde.

2.5 Prämienkalkulation auslegungsrelevant?

Weiter argumentierte der BGH, dass auch die Auslegung der Klausel nach ihrem erkennbaren Sinn und Zweck nicht zu anderen Ergebnissen führe.

Der durchschnittliche Versicherungsnehmer sei zwar an einem möglichst umfassenden Versicherungsschutz interessiert, könne aber nicht davon ausgehen, dass der Versicherer auch für nicht in dem Katalog aufgeführte, zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses noch unbekannte Krankheiten und Krankheitserreger Deckung habe gewähren wollen.

Dem Versicherungsnehmer müsse insbesondere klar sein, dass wegen des unklaren Haftungsrisikos bezüglich neu auftretender Krankheiten dem Versicherer ansonsten keine Prämienkalkulation möglich sei.

Dieses Argument überzeugt nicht. Die Prämienkalkulation ist Sache des Versicherers. Indem der Versicherungsnehmer im Rahmen des Vertragsschlusses oder der jährlichen Anpassungen die notwendigen Angaben zu seinem Betrieb macht (bspw. Jahresumsatz), versetzt er den Versicherer in die Lage, die Prämie zu kalkulieren. Auch verfügt der Versicherer über umfangreiche versicherungsmathematische Daten zum Eintrittsrisiko des Versicherungsfalls, etwa auch zum Risiko einer globalen Pandemie.

Um eine sichere Kalkulation der Prämie zu ermöglichen, kann der Versicherer den Deckungsumfang zudem durch Risikoausschlüsse begrenzen. Es wäre dem Versicherer problemlos möglich gewesen, neu auftretende Krankheitserreger vom Deckungsumfang explizit auszuschließen.

Keineswegs sollte dem durchschnittlichen Versicherungsnehmer im Rahmen der Auslegung von Versicherungsbedingungen aufgebürdet werden, die aus Sicht des Versicherers möglichst sicherste Prämienkalkulation zu gewährleisten. 

3. Offene Fragen

Die Entscheidung des BGH ist enttäuschend und inhaltlich kritikwürdig. Für viele Versicherungsnehmer mit vergleichbaren Versicherungsbedingungen verschlechtert das Urteil die Erfolgsaussichten für die Durchsetzung von Versicherungsansprüchen erheblich. Bezüglich anderer Betriebsschließungsbedingungen und möglicher deckungsrelevanter Aspekte bleiben jedoch Fragen offen. 

3.1 Versicherungsschutz unter abweichenden Bedingungen

Insbesondere bleibt abzuwarten, wie weit sich andere Formulierungen von dem Wortlaut der ZBSV 08 entfernen können, um den Erwartungen, die der BGH in seinem Urteil an den durchschnittlichen Versicherungsnehmer stellt, noch gerecht zu werden. 

Wie bereits oben erwähnt, fehlt in einigen AVB der Zusatz „im Sinne dieser Bedingungen“. 

Anderen Bedingungen mangelt es an dem Klammerzusatz „siehe Nr.2“, den der BGH ebenfalls  in seiner Argumentation pro Verständlichkeit aufführt. 

Einige Betriebsschließungsbedingungen enthalten dynamische Verweisungen in das Infektionsschutzgesetz. Danach sollen die Krankheiten und Krankheitserreger versichert sein, die in der zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls gültigen Fassung des IfSG genannt sind. Da die §§ 6,7 IfSG aber wiederum Öffnungsklauseln für noch nicht benannte Krankheiten enthalten, ist insoweit fraglich, ob die dynamischen Verweisungen in den AVB auch die Öffnungstatbestände des Infektionsschutzgesetzes mit einbeziehen sollen.

3.2 Faktische Schließung ausreichend?

Da der BGH im vorliegenden Fall das Tatbestandsmerkmal der Betriebsschließung unproblematisch bejahte, blieb die Frage offen, inwieweit man noch von einer Betriebsschließung sprechen kann, wenn Versicherungsnehmer im Schließungszeitraum weiterhin geringen Umsatz generierten. 

Man denke hier an Gastronomiebetriebe, die im normalen Betrieb sowohl Gäste vor Ort bewirten, als auch Speisen und Getränke zum Außer-Haus-Verkauf anbieten. Den Außer-Haus-Verkauf konnten Versicherungsnehmer weiterhin betreiben. Trotzdem fiel mit der Bewirtung vor Ort ein wichtiger Teil des Kerngeschäfts weg, was wiederum zu erheblichen Umsatzeinbußen führte. Dieselbe Problematik eröffnet sich für Hotelbetreiber, die weiterhin Geschäftsreisende beherbergen durften, aber keine Touristen mehr. 

Hier bleibt fraglich, ob der BGH bestimmte prozentuale Umsatzzahlen zugrunde legen, oder auf die konkreten Geschäftsmodelle der jeweiligen Betriebe abstellen wird. 

3.3 Keine Schranken für Werbung und Vertrieb?

Auch über Werbeversprechungen der Versicherer und etwaiges Beratungsverschulden von Versicherungsvertretern zu Beginn der Corona-Pandemie ist noch nicht entschieden. 

In den Werbeprospekten zur BSV versprachen viele Versicherer „umfassenden Schutz gegen Seuchengefahr“. Wie weit dürfen sich AVB von Werbeaussagen entfernen, ohne dass der Versicherer Konsequenzen zu befürchten hat? 

Gemäß § 1a VVG muss der Versicherer in Vertrieb und Schadenregulierung immer „ehrlich, redlich und professionell im bestmöglichen Interesse des Versicherungsnehmers“ handeln. War das hier noch der Fall? Oder hätten zumindest die Versicherungsvertreter auf die Diskrepanz zwischen dem erwarteten Versicherungsschutz und dem tatsächlichem Deckungsumfang hinweisen müssen? Dann könnten die Versicherer schadensersatzpflichtig sein.

3.4 Sind Deckungszusagen bedeutungslos?

Zudem bleibt bislang unbeantwortet, ob Deckungszusagen von Mitarbeitern des Versicherers eine Folge für die Eintrittspflicht des Versicherers haben.

In vielen Fällen liegen Emails leitender Schaden-Sachbearbeiter oder Kundenbetreuer aus Februar/März 2020 vor, in denen diese bestätigen, das Coronavirus sei von den Versicherungsbedingungen umfasst. Im Fall der Haftpflichtkasse, die eben dies sogar auf ihrer Website mitteilte (und also damit warb), bestätigte sogar der Vorstand noch im Juni 2020 in einem Interview, dass Corona-bedingte Betriebsschließungen versichert seien (wenn der Erreger im Betrieb auftrete). 

Es ist wenig überzeugend, dass sich aus einer solchen (z.T. öffentlichen) Bestätigung keinerlei Rechtsfolgen für den Versicherer ergeben sollen. Inwieweit eine bereits erfolgte Deckungszusage dem Versicherer im Rahmen der Vertretungsmacht zugerechnet werden kann und ihn bindet, wird die Rechtsprechung noch genau in den Blick zu nehmen haben. Entsprechende Revisionen sind anhängig.

4. Fazit: Bedeutung weit über die BSV hinaus

In Sachen Betriebsschließungsversicherungen ist die erste Runde vor dem BGH ausgefochten. Das Urteil enttäuscht und wirft Fragen auf, die auch für alle anderen Versicherungssparten von großer Relevanz sind:

Stellt der BGH (nach personellen Wechseln in dem für das Versicherungsrecht zuständigen vierten Senat) künftig grundsätzlich höhere Anforderungen an den durchschnittlichen Versicherungsnehmer und geringere Anforderungen an die Transparenz von AVB? 

Ist die Höhe und Kalkulierbarkeit der gezahlten Prämie künftig ernsthaft ein Kriterium für die Beurteilung des Deckungsumfangs einer Versicherungspolice im Rahmen der Schadenregulierung? Der BGH öffnet hier einer fragwürdigen Argumentation Tür und Tor.

Auch die weitere BGH-Rechtsprechung zur Betriebsschließungsversicherung gilt es genau im Blick zu behalten, etwa zu den Rechtsfolgen von Deckungszusagen durch Versicherungsmitarbeiter. 

Weit über die BSV hinaus ist insbesondere die Reichweite des (erst 2018 eingeführten) § 1a VVG als mögliche Grundlage für Schadensersatzansprüche des Versicherungsnehmers von großer Bedeutung.

Autor: Jem Schyma

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift Die VersicherungsPraxis 03/2022

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