Wenn der Versicherer die Seiten wechselt: Interessenwahrung und Treuepflichten im Haftpflichtprozess
Wenn der Versicherer die Seiten wechselt: Interessenwahrung und Treuepflichten im Haftpflichtprozess
Das Verhältnis zwischen Haftpflichtversicherer (VR) und Versicherungsnehmer (VN) ist seit jeher von besonderen gegenseitigen Pflichten und – mitunter kollidierenden – Interessen geprägt. Nicht selten kommt es deshalb zu Konflikten – nicht nur in besonderen Haftpflichtverhältnissen wie der D&O-Versicherung, sondern auch in der Betriebs-, Privat- und Kfz-Haftpflicht.
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Einen besonderen Streitfall hatte kürzlich das Oberlandesgericht Nürnberg zu entscheiden. Es ging dabei um nicht weniger als die grundsätzliche Frage, wessen Interesse im Haftpflichtprozess schwerer wiegt: Das Interesse des VR, nicht für Schäden zu zahlen, für die er leistungsfrei sein könnte; oder das Interesse des VN, seinen vertraglich geschuldeten Rechtsschutz und ‑beistand vom VR zu erhalten? Wie weit darf der VR in diesem Spannungsfeld zur Wahrung der eigenen Interessen gehen?
Das OLG Nürnberg traf zu diesen Fragen eine kontrovers diskutierte Entscheidung (Beschluss vom 11. April 2022, Az. 5 W 2855/20[1]), die sich gegen die bislang zum Verhältnis des Haftpflicht-VR zu seinem VN ergangene Rechtsprechung stellt. Aus diesem Grund sollte die Entscheidung auch in der Industrieversicherung nicht unbeachtet – und unwidersprochen – bleiben.
1. Entscheidung des OLG Nürnberg
Dem Beschluss des OLG Nürnberg lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Der beklagte VN war als Autofahrer in einen Unfall mit einem Radfahrer verwickelt. Der geschädigte Radfahrer behauptete, dass der VN den Unfall nicht nur fahrlässig, sondern vorsätzlich herbeigeführt habe, und erhob Klage auf Schadensersatz und Schmerzensgeld. Der VN bestritt den Vorwurf der vorsätzlichen Unfallverursachung und wehrte sich gegen die Forderung.
Im Laufe des Rechtsstreits verkündet der beklagte VN seinem Kfz-Haftpflichtversicherer den Streit mit der Aufforderung, auf seiner Seite dem Rechtsstreit beizutreten. Doch statt dem nachzukommen, trat der VR überraschend dem Kläger als Streithelfer bei (sog. Nebenintervention). Er fiel damit seinem eigenen VN de facto in den Rücken.
Der VN hielt das für unzulässig und bekam vor dem LG Ansbach zunächst Recht. Die nächste Instanz wendete jedoch das Blatt zugunsten des VR: Die Nürnberger OLG-Richter (die nicht dem Versicherungssenat des OLG Nürnberg angehören) sahen ein berechtigtes Interesse des VR am Streitbeitritt des VR. Die Nebenintervention des VR auf Seiten des Klägers sei daher zulässig.
Der VR verfolge den Richtern zufolge mit dem Streitbeitritt auf Seiten des Klägers das berechtigte eigene Interesse, dass der Kläger dem VN Vorsatz nachweist. Denn Haftpflichtversicherer sind nicht zur Leistung verpflichtet, wenn der VN vorsätzlich einen Dritten schädigt.[2]
Bedauerlicherweise legte der unterlegene VN keine Beschwerde gegen den Beschluss ein. Der BGH erhielt dadurch keine Gelegenheit, den Beschluss zu bewerten.
2. Warum die Entscheidung falsch ist
Die vom OLG Nürnberg vertretene Auffassung berücksichtigt die versicherungsvertraglichen Treue- und Rücksichtnahmepflichten ebenso wenig wie die Verpflichtung des VR, seinem VN Abwehrschutz zu gewähren.[3] Das Gericht setzt sich in Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung, insbesondere zu einer zur gleichen Frage erfolgten und gut begründeten Entscheidung des OLG München aus 2009 (Az. 1 U 1984/08[4]).
2.1 VR ist zur (vorläufigen) Rechtsschutzgewährung verpflichtet
Die Begründung des Beschlusses des OLG Nürnberg lässt jegliche Auseinandersetzung mit der Pflicht des Haftpflichtversicherers zur zumindest vorläufigen Rechtsschutzgewährung vermissen.
Die Leistungspflichten des Haftpflichtversicherers regelt § 100 VVG: Der VR muss seinen Versicherungsnehmer von begründeten Ansprüchen freistellen (Freistellungskomponente) und unbegründete Ansprüche abwehren (Abwehrkomponente). Zwischen der Abwehr- und der Freistellungskomponente besteht kein Rangverhältnis. Unter die Abwehrkomponente fällt die sogenannte Rechtsschutzverpflichtung des Versicherers.
Die Rechtsschutzverpflichtung kann zeitlich früher eintreten (wie bei dem entschiedenen Fall) als die Verpflichtung zur Freistellung, die u.a. erst dann besteht, wenn der vom Geschädigten geführte Haftpflichtprozess beendet ist. So entsteht die Rechtsschutzverpflichtung des Haftpflichtversicherers bereits dann, wenn der Geschädigte seine Ansprüche gegen den VN geltend macht.
Aufgrund des häufigen zeitlichen Auseinanderfallens ist an die Rechtsschutzverpflichtung ein anderer Maßstab anzulegen als bei der Verpflichtung zur Freistellung.[5] Schon wenn der VN vorsätzliches Handeln bestreitet, muss der VR seiner Verpflichtung zur Rechtsschutzgewährung nachkommen.[6] Denn der VR muss den Angaben seines VN grundsätzlich Glauben schenken. Im Gegenzug trifft den VN die versicherungsvertragliche Obliegenheit zu wahrheitsgemäßen Angaben.
Nur wenn die Angaben des VN offensichtlich falsch sind oder an deren Wahrheitsgehalt ganz erhebliche, begründbare Zweifel bestehen, ist dies anders zu bewerten. Das Oberlandesgericht Nürnberg traf hierzu bezeichnenderweise keinerlei Feststellungen.
Der pflichtgemäß vorläufig zahlende VR bliebe auch nicht auf unrechtmäßig gezahlten Abwehrkosten sitzen. Stellt sich im Haftpflichtprozess heraus, dass der VN den Schaden vorsätzlich herbeigeführt hat, kann der VR die von ihm verauslagten Kosten bei seinem VN zurückverlangen. Seine Rechte kann der VR zudem durch einen Rückforderungsvorbehalt wahren.[7]
Der VR ist daher zur Wahrung seiner Interessen nicht darauf angewiesen, dem Rechtsstreit auf Seiten des Gegners seines Versicherungsnehmers beizutreten.
2.2 VR hat die Interessen seines VN zu wahren
Auch die aus dem Versicherungsvertrag folgenden Treue- und Rücksichtnahmepflichten zwischen VR und seinem VN (gem. §§ 242, 241 Abs. 2 BGB) berücksichtigt das OLG Nürnberg nicht.
Aus der Besonderheit des Haftpflicht-Versicherungsverhältnisses folgt die Verpflichtung des VR, im Haftpflichtprozess die Interessen seines VN zu wahren und dabei gegebenenfalls eigene Interessen hintenanzustellen.[8] Ein VR, der nicht seinen VN bei der Anspruchsabwehr, sondern den Anspruchssteller bei der Durchsetzung von Haftpflichtansprüche gegen den VN unterstützt, stellt seine eigenen Interessen jedoch über die Interessen seines VN. Mit dem Kooperationsgebot des VR und seines VN in der Haftpflichtversicherung ist dies nicht vereinbar. [9]
Selbst dann, wenn der VR dem VN den Versicherungsschutz versagen will, darf er keine Prozesshandlungen vornehmen, die für den VN erkennbar nachteilig sind.[10] Es liegt auf der Hand, dass die Unterstützung der Gegenpartei im Wege des Streitbeitritts eine Verletzung dieser versicherungsvertraglichen Pflichten darstellt.
2.3 Nebenintervention des VR ist rechtsmissbräuchlich
Das Fehlverhalten des VR in dem vom OLG Nürnberg entschiedenen Fall wiegt aus den dargestellten Grünen schwer. So schwer, dass der Beitritt aufseiten des Gegners des VN zum Zweck der Feststellung einer vorsätzlichen Schadenszufügung im Haftpflichtprozess rechtmissbräuchlich und aus diesem Grund unzulässig ist.[11]
3. Fazit
Versichererfreundliche Stimmen in der Literatur warfen im Zusammenhang mit der Entscheidung des OLG Nürnberg die Frage auf, ob denn ein vorsätzlich handelnder VN von seinem Haftpflichtversicherer Deckung verlangen können soll. Diese Frage ist rein manipulativ. Es ist unstreitig, dass der VR bei festgestelltem (!) Vorsatz leistungsfrei ist. Alleine dadurch, dass sich ein Anspruchsteller auf Vorsatz beruft, steht aber keinesfalls fest, dass der VN vorsätzlich handelte. Ob der VN vorsätzlich handelte ist im Zweifel im Haftpflichtprozess oder ggf. im anschließenden Deckungsprozess gerichtlich zu klären. Eine Vorverurteilung durch den eigenen VR muss kein VN hinnehmen.
Die Entscheidung des OLG Nürnberg steht mit den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen der Haftpflichtversicherung nicht in Einklang. Verweigert ein Haftpflichtversicherer die Deckung, wozu er bei Vorliegen der Voraussetzungen berechtigt ist, muss er gem. § 100 VVG seinem VN trotz allem Abwehrschutz gewähren. Tut er dies nicht, verletzt er bereits seine Pflicht zur Wahrung der Interessen des VN. Geht der VR so weit, dass er in einem Haftpflichtprozess mit einem Streitbeitritt auf Seiten des Anspruchstellers dessen Anspruchsdurchsetzung gegen seinen eigenen Versicherungsnehmer aktiv unterstürzt, ist dies rechtsmissbräuchlich und der Streitbeitritt unzulässig.
Auch wenn das extrem konfrontative Verhalten des VR im vorliegenden Fall ungewöhnlich ist, scheint es doch symptomatisch für einen generellen Vertrauensverlust zwischen Versicherern und ihren Kunden. Es ist eine Tendenz zu beobachten, dass einige Versicherer bereit sind, klassische rote Linien testweise zu überschreiten und das gültige Regelwerk zu missachten. So machte in der D&O-Versicherung 2021 die Deckungsverweigerung der Wirecard-Versicherer Schlagzeilen. Auch hier meinte der VR, das Ergebnis des (straf-)prozessualen Verfahrens vorweg nehmen zu können und der versicherten Person aufgrund mutmaßlichen Vorsatzes die Deckung zu verweigern. Der VR kassierte eine klare Niederlage vor dem LG und OLG Frankfurt. Statt sich diese Niederlage einzugestehen und endlich Kostenerstattung zu gewähren, verfolgt der Versicherer den Rechtsstreit nun mit einer wenig erfolgsversprechenden Nichtzulassungsbeschwerde vor dem BGH weiter.
Derartige Grenzüberschreitungen dürfen keine Schule machen. VR, die sich aktiv gegen ihre eigenen VN stellen, ihnen sogar in den Rücken fallen, indem sie gar den Gegner unterstützen, sollten die Kunden ihrerseits den Rücken kehren.
[1] OLG Nürnberg in r+s 2022, 325
[2] gemäß § 117 Abs. 3 Alt. 1 VVG i.V.m. A.1.5.1.AKB/§ 103 VVG
[3] BGH, Urteil vom 15. 9. 2010 - IV ZR 107/09 in NJW 2011, 377
[4] OLG München in VersR 2009, 822 ff.
[5] u.a. OLG Köln, Urteil vom 27. September 2016 zum Aktenzeichen 9 U 26/16
[6] Anmerkung Prof. Robert Koch zum Beschluss des OLG Nürnberg vom 11. April 2022 – 5 W 2855/20 in VersR 2022, 940
[7] Koch in Bruck/Möller, VVG, 10. Aufl., § 100 Rz. 46
[8] OLG Karlsruhe, Beschluss vom 18. November 2016 zum Aktenzeichen 12 W 17/16
[9] Armbrüster, Privatversicherungsrecht, 2. Aufl., Rz. 292 ff., 520
[10] BGH, Urteil vom 18. Juli 2001 zum Aktenzeichen IV ZR 24/00
[11] Anmerkung Prof. Robert Koch zum Beschluss des OLG Nürnberg vom 11. April 2022 – 5 W 2855/20 in VersR 2022, 941